80 Jahre danach: Gedenken an die Reichsprogromnacht Parallelen ins Jetzt gezogen

09.November: Bei diesem Datum schrillen bei jedem Deutschen die Alarmglocken. Sollten sie zumindest. Dass der 9. November nicht nur den Mauerfall bedeutet, daran erinnerte man sich gestern Abend einmal mehr im Betzdorfer Rathaus (und später an der Gedenkrosette an der Viktoristraße) und erstmals auch in Kirchen mit einer Gedenkveranstaltung. Zum 80. Mal jährte sich die Reichspogromnacht.

Der Kirchener Heimatverein war dabei nicht bloß Gastgeber (eingeladen hatte die Lenkungsgruppe des städtischen Demografieausschusses), Vorsitzender Hubertus Hensel hatte einen als Grußwort getarnten Vortrag vorbereitet, den Dr. Johannes Pfeifer in Vertretung hielt. Dabei stützte sich Hensel in einigen Passagen auf den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dessen vielbeachtete Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Hensel kam dabei zu einigen Schlussfolgerungen, die auf die derzeitige politische Lage abzielten: „Das Gewesene ist nicht vorbei.“ Oder: „Wir sind auch immer, was wir waren.“ Heutzutage könne man wieder „Parolen jener Zeit“ vernehmen. Daher seien „wehrhafte Demokraten“ gefordert. Warum das so ist, machte er an Schilderungen um die jüdischen Familie Moses aus der Kirchener Sandstraße deutlich.

Ein Bild derer „Stolpersteine“ wurde auf einem Monitor gezeigt, eine Menora, ein siebenarmiger Kerzenleuchter, und ein Strauß weißer Rosen davor. Hier hatte Andreas Hundhausen zuvor die Gäste begrüßt. Auch der Stadtbürgermeister konnte sich nicht verkneifen, gewisse Parallelen der damaligen Zeit ins Jetzt zu ziehen. Genauso wie sein Betzdorfer Amtskollege rund eine Stunde zuvor: „Ich fühle persönlich, dass in dieser Gesellschaft etwas passiert, was mir ein Unwohlsein beschert“, so Bernd Brato. Oder anders: „Das Klima ist rauer geworden.“ Er sprach von „braunen Brüdern“ und appellierte an die Lokalpolitik, die Auseinandersetzung zu suchen: „Im Argument werdet ihr die Stärkeren sein.“ Ähnlich hatte er es am Morgen gemacht, als Gymnasiasten im Ratssaal ihre Arbeiten zum Thema präsentierten (siehe Bericht oben). Gestern Abend kam ein entscheidender Satz hinzu: „Bis hierher und nicht wieder.“

Auch Gerd Bäumer vom Betzdorfer Geschichtsverein ergriff das Wort. Er sprach über das jüdische Leben im Siegerland und hielt sich dabei an die historischen Fakten. In Betzdorf waren am Ende der NS-Zeit 21 Juden verschollen/vermisst/ermordet worden, so Bäumer, der abschließend zu der Einschätzung kam: „Die Erinnerung an das Geschehene darf nicht mit den letzten Zeitzeugen sterben.“

Horst Vetters Rede begann mit den Worten „Nie dürfen wir vergessen!“ Er kam nach seiner Hinführung zum Ereignis der Reichspogromnacht – der Rassenwahn sei schließlich nicht vom Himmel gefallen – auch auf die derzeitige Situation zu sprechen: Die heutige Bundesrepublik sei nicht Weimar. „Noch nicht.“ Seine Losung: „Wir müssen widersprechen, privat und öffentlich, in unseren Familien, bei unseren Nachbarn, bei unseren Bekannten, am Stammtisch und im Internet, wo immer abfällig über Minderheiten geredet wird.“

Im Kirchener Heimatmuseum griff derweil Karl-Heinz Dorka mit Freunden zu Gitarre & Co. Mit seiner Klezmermusik traf er den Nerv des Moments, was auch an der Auswahl der Stücke lag. Er trug Lieder vor, die einst im Ghetto von Vilnius entstanden sind, zum Beispiel „Wir leben ewig“ („mir lebn eybik“).

Wilfried Becker übernahm das Schlusswort. Dabei zitierte er Berthold Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Eva Fischer hatte zuvor aus Berichten damaliger jugendlicher Zeitzeugen gelesen, die in Yad Vashem aufbewahrt werden. Ganz banal und doch vielsagend heißt es da in einer der Schilderungen: „Es war schrecklich.“

Quelle: SZ, 10. November 2018

In Kirchen gab es zum ersten Mal eine Veranstaltung, bei der an die Reichspogromnacht und deren Folgen erinnert wurde. Im Heimatmuseum begrüßte Stadtbürgermeister Andreas Hundhausen die Gäste. Fotos: dach

Horst Vetter (l.) und Gerd Bäumer sprachen beim Gedenken im Betzdorfer Rathaus. Fotos: dach