Bewegendes Gedenken an die Pogromnacht
Zeitzeugen gibt es nur noch wenige, umso wichtiger sind das Erinnern und Mahnen. An den Veranstaltungen in Betzdorf und Kirchen nimmt auch die junge Generation teil. Und es fallen deutliche Worte SZ 11. November 2024
Nach der Gedenkstunde im Rathaus legte Stadtbürgermeister Johannes Behner ein Gebinde aus weißen Rosen an der Gedenkrosette nieder. In diesem Bereich stand früher ein Bethaus. Jusos und Bündnis90/Grüne hatten einen Kranz niedergelegt. Die Stadtratsfraktionen zündeten symbolisch Kerzen an.
Von Nadine Buderath
und Rainer Schmitt
BETZDORF/KIRCHEN. „Zur Erinnerung – zum Gedenken – zur Mahnung“: So war die Gedenkstunde des Betzdorfer Geschichtsvereins (BGV) anlässlich der Reichspogromnacht am Samstag im Rathaus überschrieben. Es sei ein Ereignis gewesen, „das nicht nur in der Geschichte Deutschlands, sondern auch in der Geschichte unserer Stadt einen tiefen Schatten hinterlassen hat“, sagte Stadtbürgermeister Johannes Behner. Es sei der Auftakt zu einer beispiellosen Welle der Gewalt und des Hasses gegen die jüdische Bevölkerung gewesen. „Diese Nacht war der Beginn eines systematischen Versuchs, die jüdische Bevölkerung auszulöschen – und wir wissen, zu welchen Schrecken das führte: zum Holocaust.“
Man müsse sicherstellen, dass sich solch ein Unrecht nie wiederholt, nicht nur im eigenen Land, sondern überall auf der Welt, wo Diskriminierung und Intoleranz noch immer existieren.
Für den BGV sprachen Gerd Bäumer, Barbara Jäger und Karl-Heinz Brato. Sie ging u. a. der Frage nach, ob es auch in Betzdorf antisemitische Strömungen gab. Es wurde ein antisemitischer Hetzbeitrag aus einer Bierzeitung des Realgymnasiums Betzdorf von 1921 zitiert. „Nicht die Institution ‚Gymnasium‘ war es, eher der Zeitgeist der 1920er“, hieß es dazu. 1925 lebten in Betzdorf 43 jüdische Mitbürger – bis zum 9. November 1938 hatten die meisten von ihnen den Ort verlassen. Zur Pogromnacht gab die Zeitzeugin Franziska Fritz (geb. Muhl), Verkäuferin im Kaufhaus Gerolstein, zu Protokoll, dass in jener Zeit immer zwei SA-Leute vor dem Eingang gestanden hätten, die alle Besucher auf das jüdische Geschäft aufmerksam machten.
„Nie wieder ist jetzt!“: Altbürgermeister Michael Lieber erinnerte an den 7. Oktober 2023 und das schreckliche Massaker in Israel. „Das hat viele Menschen sehr betroffen gemacht und entsetzt“, sagte Lieber – und: „Es ist abstoßend und entsetzlich, dass dieses schreckliche Massaker auf deutschen Straßen und in Universitäten unterstützt und bejubelt wird.“ Er sprach Klartext: „Diesen Antisemitismus dürfen wir nicht dulden! Wer das Existenzrecht Israels leugnet, ist ein Antisemit!“
Diesen Antisemitismus dürfen
wir nicht dulden!
Michael Lieber
Altbürgermeister Betzdorf
Stella Schareck (Querflöte) Marica Enkirch (Violine) und Benedikt Neuroth (Piano), Schüler des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums, umrahmten das Gedenken mit Klezmer-Violine-Klängen. Behner legte an der Gedenkrosette an der Viktoriastraße ein Gebinde aus weißen Rosen nieder. Vertreter der Stadtratsfraktionen zündeten Kerzen an: „Sie stehen für das Licht der Hoffnung, das in der Dunkelheit der Vergangenheit strahlt“, sagte Behner: „Mögen sie die Erinnerung an die verlorenen Leben erhellen und uns dazu inspirieren, für Frieden und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu arbeiten.“
„Wir brauchen Menschen, die für die Demokratie einstehen“, mahnte auch Hubertus Hensel, Vorsitzender des Kirchener Heimatvereins. Denn auch im Heimatmuseum an der Wiesenstraße wurde am Samstag an die Novemberpogrome erinnert. Denn, so Hensel, man sollte nicht vor der Vergangenheit die Augen verschließen: Das Vergessen sei das Schlimmste.
Bereits seit vielen Jahren lädt der Verein zur Gedenkstunde ein und hält so die Erinnerung wach. Stadtbürgermeister Andreas Hundhausen dankte in seiner Begrüßung für dieses Engagement – solche Gedenkveranstaltungen seien sehr wichtig, denn Zeitzeugen gibt es nicht mehr viele.
Am Samstag mussten noch Stühle herbeigeholt werden, damit alle Besucher und Besucherinnen Platz fanden. Hubertus Hensel selbst erinnerte in seinem Vortrag „Der 9. November – ein Schicksalstag in der deutschen Geschichte“ an die vielen Facetten des Datums. Dr. Johannes Pfeifer, 2. Vorsitzender des Vereins, berichtete von den umfangreichen Recherchen zum Schicksal von Mitgliedern der Familie Loewenstein, die zeitweilig in einem Haus an der Hauptstraße in Kirchen wohnten.
Noch ganz frisch waren die Ergebnisse der Recherche, die Pfeifer präsentierte. So war er auch auf ein Foto gestoßen, das wohl Moses und Rosa Loewenstein zeigt. Von deren drei Kindern wurde eines in Kirchen geboren: Tochter Anna. Sie überlebte den Holocaust. Aber wie ihr das gelang, das weiß man (noch) nicht.
Musikalisch mitgestaltet wurde die Veranstaltung von Karl-Heinz Dorka und Peter Zöller, die bewegende Stücke, beispielsweise von Ilse Weber, vortrugen. Auch ein Gedicht von Ilse Weber über den Alltag in Theresienstadt gab es zu hören – gelesen von Edelgard Giesa-Mees.
Und: Zur Gestaltung trugen auch die heimischen Schulen bei. So Schülerinnen und Lehrkräfte der IGS Betzdorf-Kirchen. Sie berichteten, wie Toleranz und Mitmenschlichkeit im Schulalltag gelingen. Ihre Botschaft: „Wenn wir im Kleinen anfangen, Frieden zu leben, ist ein großer Schritt gemacht.“
Auch in einem Beitrag von Schülerinnen des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums klang dies an. Sie hatten sich mit dem Schicksal der Familie Loewenstein beschäftigt und was es für sie selbst bedeutet. Glaube und Herkunft, so der Appell, sollten nicht das Schicksal eines Menschen bestimmen.