Geschichte zum Blättern: Neues Heimatblatt begeistert

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Wilde Partys in Kirchens einziger Disco, eine Suche nach den Spuren einer jüdischen Familie und die Antwort auf die Frage, warum es in Freusburg viele Westerwälder Namen gibt: All das liefert der Kirchener Heimatverein mit seiner neuesten Publikation                SZ 30. Oktober 2024

Von Daniel Montanus

KIRCHEN. Wenn am Sonntag in Kirchen das Stadtfest gefeiert wird, ist auch der Heimatverein mit von der Partie – und mit ihm die neue Ausgabe des Kirchener Heimatblatts. Und das ist für alle, die sich für Kirchen interessieren, eine gute Nachricht: Das Druckwerk ist nicht nur so dick wie nie, sondern auch enorm vielfältig. Heimatgeschichte kann eben viele Facetten haben.

Das ist beim Besuch der SZ im Kirchener Heimatmuseum deutlich geworden. Dort haben Hubertus Hensel, Karl-Hermann Stühn und Dr. Johannes Pfeifer Einblicke in das Heimatblatt, vor allem aber in den Schaffensprozess gewährt. Außer Frage steht: In den knapp 50 Seiten steckt enorm viel Herzblut – manchen Geschichten liegt eine jahrelange und intensive Recherche zugrunde.

 

Heimatgeschichte
ist nicht immer so alt,
ist nicht immer so weit weg.

 

Dr. Johannes Pfeifer

Kirchener Heimatverein

 

Hubertus Hensel liefert ein Beispiel: Er hat vor Jahren begonnen, die Wurzeln einer jüdischen Familie in Kirchen zu suchen – mittlerweile dürfte er sich besser in der Geschichte der Familie Moses auskennen als die Nachfahren von Otto Moses. Ihn hat Hensel in Amerika aufgespürt, kontaktiert und vor etwa zwanzig Jahren besucht. „Wir haben mehrere Tage lang von morgens bis abends miteinander verbracht und nur geredet, geredet und geredet.“

In diesen langen Stunden mit dem alten Mann hat Hensel eine Geschichte zutage gefördert, die ohne ihn unerzählt geblieben wäre – obwohl sie es verdient hat, geteilt zu werden. Denn was der Familie Moses in den Zeiten des Nationalsozialismus widerfahren ist, zeigt mit trauriger Deutlichkeit die zerstörerische Kraft des Rassismus – an Aktualität hat das Thema nichts verloren.

Aber nicht immer ist Heimatgeschichte ein Lehrstück: Manchmal dient sie auch nur der Unterhaltung. Bestes Beispiel dafür: der Beitrag, den Dr. Johannes Pfeifer über die Geschichte der Kirchener Diskothek „La Chateau Noir“ verfasst hat.

Auch er hat intensiv recherchiert, mit vielen Zeitzeugen gesprochen und alte Fotos zutage gefördert. Zugleich hat er aus seinen eigenen Erinnerungen schöpfen können, denn auch in seinem Leben spielt das frühere Tanzlokal eine gewichtige Rolle: „Dort habe ich meine Frau kennengelernt. Das ‚La Chateau Noir‘ war in Kirchen die Kontaktbörse schlechthin.“

Pfeifer hat aber nicht nur zwei Beiträge über die wilden Zeiten im Kirchener Oberdorf verfasst, sondern auch eine Ausstellung im Heimatmuseum auf die Beine gestellt. Und die hat so große Besucherscharen angelockt wie keine andere Veranstaltung seit Bestehen des Heimatmuseums.

Überraschend ist das nicht: Viele Kirchener erinnern sich selbst noch allzu gut an die Zeit des „La Chateau Noir“ – viel lebendiger kann Heimatgeschichte nicht sein. „Heimatgeschichte ist nicht immer so alt, ist nicht immer so weit weg“, meint Dr. Pfeifer.

Natürlich finden sich auch „klassische“ Beiträge, also solche, die man in einer Publikation zur Heimatgeschichte vermuten würde, im aktuellen Kirchener Heimatblatt, zum Beispiel die Historie der „Grube Wilhelmine“. Aber auch hier beschränkt sich Autor Hubert Molzberger keineswegs darauf, technische Daten zur Schachttiefe und zu den Fördermengen zu liefern.

Er erzählt eben auch die Geschichte der „Kostgänger“, also der Bergleute aus dem Westerwald, die im Siegtal gearbeitet und dort in privaten Haushalten ein Dach über dem Kopf gefunden haben. Dass viele von ihnen nie wieder zurück in die Heimat gegangen sind, liegt auf der Hand: Etliche der „Kostgänger“ haben junge Frauen aus Freusburg geheiratet und sind geblieben. Heimatgeschichte kann also durchaus auch menscheln.

Das gilt auch für die berührende Geschichte eines heute 85-Jährigen: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs wurden er und sein Bruder beim Spielen auf dem Brühlhof von einer amerikanischen Granate schwer verletzt. Diese Geschichte verdeutlicht nicht nur, wie sehr ein einziger tragischer Augenblick die Lebenslinie eines damals sechsjährigen Kindes verändert hat, sondern gewinnt durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten aktuell wieder traurige Aktualität.

All das – und noch einige Artikel mehr – finden sich in der nunmehr 41. Auflage des Kirchener Heimatblatts. Die ersten gut 350 Exemplare sind schon bei den Vereinsmitgliedern eingetroffen; einige davon sind auch ins Ausland verschickt worden, wo ausgewanderte Kirchener so ein Stück weit die Verbindung zu ihrer Heimat halten.

Aber es sind noch genug Heimatblätter für den direkten Verkauf übrig – und die gibt‘s nicht nur an den üblichen Verkaufsstellen (z. B. in den Apotheken und den Buchhandlungen), sondern eben auch beim Kirchener Stadtfest am Sonntag.