Privates aus dem 19. Jahrhundert
Privates aus dem 19. Jahrhundert Briefe aus dem "Dorf der Millionäre" / Arnold Jung schrieb an Schwester Mathilde
Von „Klöpfe“ für
trinkfaule Säuglinge und „Modernisierungswuth“.
1867, der kleine Arnold greift zu Feder und Tusche: „Ich gratuliere Dir vielmal zum Geburtstage“, schreibt der Achtjährige seiner Schwester Mathilde, selbstverständlich in Schönschrift. 18 Jahre später gründet Arnold eine Firma, deren Name noch heute für den Glanz im früheren „Dorf der Millionäre“ steht: die Lokomotivfabrik Jung & Staimer OHG.
1867 aber interessiert er sich noch eher für sein Spielzeug. Im Brief berichtet er darüber, dass er neulich selbst Geburtstag gehabt und ein Spiel bekommen habe – aber: „Meine Soldaten haben im letzten Krieg mit ihren Kanonen zu viel getroffen und sie sind entzwei gegangen, und ich bitte dich, mir eine neue Kanone zu schicken.“
Ob dieser Wunsch von der 16-jährigen Schwester erfüllt wurde, ist nicht überliefert. Fest steht, dass der Bruder mit diesen drei Sätzen beide Seiten des Briefpapiers (DIN A5) füllte. „Es grüßt dich dein Bruder Arnold“: Damit schließt er die Zeilen, die 152 Jahre überdauert und nun den Weg zurück nach Kirchen gefunden haben.
Über Inka Lotz (Minden) kamen weitere neun Briefe und ein Album zurück an die Sieg, berichtete jetzt Dr. Johannes Pfeifer vom Heimatverein Kirchen. Kontakt zu ihm knüpfte auch Martin Kraemer. Den Schweizer führte seine Ahnenforschung nach Kirchen – sein Urgroßvater war Gerbereibesitzer Otto Kraemer.
Die heutige Stadt Kirchen war als das „Dorf der Millionäre“ in Deutschland bekannt – und dazu haben die Industriellen-Familien wie Stein, Jung und Kraemer beigetragen. Die Villen erzählen noch heute von dieser Ära. Die Villa Kraemer ist bekanntlich Sitz der Stadtverwaltung, Jung-Jungenthal noch immer als Lokomotivfabrik ein Begriff.
Abseits von firmengeschichtlicher Historie öffnet sich mit den Briefen eine Tür zur „hohen Kirchener Gesellschaft“ jener Zeit. Das ist spannend, weiß Pfeifer: „Wir erhalten einen Einblick, wie die Menschen gelebt haben, welche Probleme sie hatten.“ Für ihn sind sie ein Schatz.
Den überwiegenden Teil der Briefe schrieb Mathilde Prigge (1851-1882) – die Schwester von Arnold Jung (1859-1911) – an Schwester Emma (1849-1913). Letztere heiratete in das Haus Kraemer ein, ihr Ehemann war Justus (1845-1875). Oft sei die Rede von „Kränzchen“, zu denen sich die Damen und Herren trafen, so Pfeifer, der alles aus dem Sütterlin transkribiert hat.
So berichtet Mathilde an ihre Schwester, die auf Reisen ist, vom Fortgang der Renovierung des Hauses – eine der Villen an der Hauptstraße. „Wiefel“ habe den Flur gemacht, aber nicht aufgeräumt: „Und lagen die Schnitzel noch alle umher. Jetzt lässt er wieder nichts von sich hören, nun, das schadet ja nichts, die untere Küche ist fertig bis aufs Einrichten“.
„Verblüfft“ gibt sich Mathilde, nachdem sie in der Wohnung der Schwester „ein zertrenntes Kleid“ entdeckte: „Eure Modernisierungswuth geht doch wahrlich etwas weit, und sollte ich denken, ein Kostüm von Hessels könnte man wenigstens zwei Saisons unverändert tragen.“ Aber: „Nur mir kanns einerlei sein, ich bin nur froh, dass ich nicht eure Schneiderrechnungen zu bezahlen brauche.“ Viele der persönlichen Einblicke lassen sich, leicht abgewandelt, auch auf die Menschen übertragen, die 150 Jahre später, also heutzutage, leben.
Allerdings zum Glück in der Vergangenheit geblieben sind die – gelinde ausgedrückt – rauen Sitten, um „trinkfaule“ Säuglinge zu motivieren. Offenbar will der am 12. September 1882 geborene Sohn von Hedwig Stein (geb. Jung), die jüngste Schwester von Arnold Jung, nicht trinken. Mathilde, die mit dem Arzt Dr. Heinrich Prigge verheiratet ist, schreibt am 21. September: „Heinrich lässt Euch sagen, der Junge müsste aber mit Gewalt zum Trinken gezwungen werden.“ Das wurde auch praktiziert, denn Mathilde schreibt: „Du wirst Dich ja erinnern, wie oft Alexander (der erste Sohn von Mathilde) durchaus schlafen wollte, Klöpfe bekam, wie ihn Heinrich sogar aus der Wickel zog, damit er die Schläge spürt, während Frau Geißler blutige Tränen vergoss über die Quälerei des armen Kindes.“
Es geht in den Briefen auch ums liebe Geld, ebenfalls ein noch aktuelles Thema. Mathilde, die sich mehrfach als sparsame Frau zu erkennen gibt, teilt mit: „Wir essen schon jetzt gekaufte Kartoffeln a 5 M 50 der Zentner, das ist doch schrecklich“. Emma erfährt auch, dass „Mama ihren alten Wagen“ für 400 Mark verkaufte.
Heimatforscher Pfeifer hat sich auch die Mühe gemacht, die teils nur mit Vornamen in den Briefen erwähnten Personen und ihre Beziehungen untereinander darzustellen. Auf einem Foto aus dem Album ist Arnold Jung mit seiner Ehefrau abgelichtet. Noch sind längst aber nicht alle Personen zugeordnet, hieran feilt Pfeifer noch. Das Fotobuch gehörte vermutlich Helene Busch (1880-1959). Sie war die Tochter von Mathilde und Heinrich Prigge, die auf dem katholischen Friedhof in Kirchen beerdigt sind. Helene verstarb in Bischofshofen.
Hier vermutet Pfeifer eine Verbindung: Dr. Hellmut Lotz war mit einer Tochter von Arnold Jung verheiratet – und Inka Lotz erhielt das Album aus dem Nachlass ihres 1987 verstorbenen Großvaters Dr. Hellmut Lotz, der mit seiner Frau Marie-Luise, geb. Jung, auch auf dem katholischen Friedhof in Kirchen beerdigt ist, jedoch vermutlich in Berchtesgaden lebte, wie Inka Lotz vermutet.
So könnte sich der Kreis wieder schließen: Für Pfeifer steht fest, dass dieser Fundus aus einer vergangenen Epoche die Basis für eine Sonderausstellung sein wird – und dazu möchte Inka Lotz nach Kirchen kommen.
Kraemer kommt nach Kirchen
Pfeifers zweite „Spur“ führt in die Schweiz: Martin Kraemers Großvater Dr. Richard Kraemer war ein reformierter Theologe. 1914 wechselte er von Kirchen ins oberbergische Nümbrecht. Für den Seelsorger, Sohn von Gerbereibesitzer Otto Kraemer, ging es mit drei Kindern später ins Land der Eidgenossen. Enkel Martin Kraemer erfuhr bei seiner Recherche von den Ursprüngen in Kirchen und wollte mehr erfahren – Pfeifer und der Heimatverein waren behilflich. Selbst war Kraemer noch nicht in Kirchen, aber das, so Pfeifer, will er nachholen. Für den Besuch ist eine Veranstaltung angedacht, bei der Kraemer aus dem ihm bekannten Teil seiner Familiengeschichte erzählt, während Pfeifer und der Heimatverein die Kirchener Sicht aufbereiten.
Quelle: SZ, 08. Juni 2019
Mathilde Prigge, Schwester von Arnold Jung, schrieb fleißig an ihre Schwester Emma, die mit Justus Kraemer verheiratet war. Die Drei haben auf dem katholischen Friedhof in Kirchen ihre letzte Ruhestätte gefunden. Fotos: rai
Als Arnold Jung vor 152 Jahren diese Zeilen schrieb, gab es die Metallschilder, die seinen Namen tragen, noch nicht. Dr. Johannes Pfeifer hält das Schriftstück in die Kamera.