Kirchen erinnert an Gräuel der Nazi-Zeit
Kirchen erinnert an Gräuel der Nazi-Zeit
Während der Terrorherrschaft der Nazis wurden geistig und körperlich Behinderte als „unproduktive Volksgenossen“ ermordet – vom Staat organisiert. Heute helfen sie, an die unfassbaren Taten von damals zu erinnern. Wie jetzt in Kirchen am Rathaus.
Von Peter Seel SZ 19.Ortober 2024
KIRCHEN. In der Villa Kraemer, heute Sitz von Kirchens Stadtbürgermeister Andreas Hundhausen, lebte bis zum Zweiten Weltkrieg die reiche Gerbereibesitzer-Familie gleichen Namens. Justus, eines der Kinder, war geistig eingeschränkt, hatte wohl eine Art von Autismus: Als „Inselbegabung“ war Justus besonders gut im Erlernen alter Sprachen. Aber weil er mit seiner Behinderung nicht ins rassistische Weltbild der Nazis passte, wurde er im Alter von 47 Jahren ermordet.
Im Juli 2021 wurde vor der Eingangstür der Villa Kraemer ein „Stolperstein“ für Justus Kraemer ins Pflaster eingesetzt. Geistig behinderte Bewohner der Lebenshilfe Mittelhof-Steckenstein halfen dem Bauhof Kirchen dabei. „Eine Aktion mit hoher Symbolkraft“, sagt Hubertus Hensel, Vorsitzender des Heimatvereins Kirchen.
Der Stolperstein ist seitdem durch die Witterung stark verblasst. Am Donnerstagmittag wurde er auf Anregung des Heimatvereins Kirchen von Steckenstein-Bewohnern und -helfern sorgsam gereinigt – und damit erneut ein Zeichen gesetzt gegen das Vergessen und für Menschlichkeit.
„Diese Reinigung vor der Villa Kraemer“, erklärt Johannes Pfeifer vom Heimatverein, der die Aktion angestoßen hat, „wird ab jetzt in jedem Herbst von Mitarbeitern und Bewohnern der Lebenshilfe durchgeführt.“ In Zusammenarbeit mit dem Heimatverein und der Stadt Kirchen soll es eine Mahnung sein.
Justus Kraemer war im Zuge der sogenannten wilden Euthanasie in der NS-Zeit im „Hungerhaus“ Nr. 25 in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München zu Tode gekommen: „Man ließ die Bewohner, darunter viele aus dem AK-Land, durch fettarme Kost systematisch verhungern“, so Pfeifer. „Offiziell wurde Lungenentzündung als Todesursache angegeben.“
Bettina Grothe vom Vorstand der Lebenshilfe Steckenstein dankte dem Heimatverein für seine neuerliche Initiative. „Jeder Mensch ist lebenswert“, erklärte sie, „und indem wir den Stolperstein wieder zum Glänzen bringen, wollen wir den Glanz aller Menschlichkeit hervorheben.“
Kirchens Bürgermeister Andreas Hundhausen erklärte: „Wir brauchen diese Erinnerung an die zwölf schrecklichsten Jahre in Deutschland heute mehr denn je. Im Jahr 2024, wo die Rechtsextremen wieder von massenweiser Abschiebung, von Remigration reden, müssen wir als Zivilgesellschaft klar Position beziehen.“
Hubert Hensel griff das auf und erinnerte daran, dass bei rechtsextremistischen Taten und Übergriffen viel zu viele Menschen wegschauen: „Nicht einzuschreiten und wegzugucken“, sagt er im SZ-Gespräch, „das ist das Schlimmste und der Anfang von allem. Denn dann wagen sich Rassisten und Faschisten immer mehr aus der Deckung.“
Auch Hellmut Lotz ist beim Heimatverein Kirchen und engagiert, wenn es darum geht, Neonazis und rechtem Gedankengut entgegenzutreten. Er weist auf einen anderen Aspekt hin, der mit der Ermordung des Sohnes des Gerberei-Besitzers deutlich wird: „Es kann jeden treffen, wenn wir nicht früh genug sagen: Bis hierhin und nicht weiter!
Immerhin sei Justus Kraemer der Sohn einer einflussreichen, privilegierten und sehr wohlhabenden Familie gewesen. „Anfangs denkt jeder: Ich bin ja nicht gefährdet, weil ich zu der oder der Schicht gehöre, weil ich nicht dieser oder jener Richtung angehöre. Aber am Schluss ist jeder Mensch gefährdet, wenn die Nazis an die Macht kommen.“
Johannes Pfeifer, der für den Heimatverein ausgiebig über die Ermordung von Justus Kraemer recherchiert hat, erfuhr, dass Justus im Juli 1943 nach jahrelangen Aufenthalten in Heil- und Pflegeanstalten der Umgebung zusammen mit 120 weiteren Patienten aus Hausen im Rheinland in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Eglfing-Haar bei München eingeliefert wurde.
„Er starb schon kurz darauf“, so Pfeifer, „und kam sehr wahrscheinlich schon geschwächt dort an. Mit der Mangelernährung nahm man seinen Tod billigend in Kauf. Für die Nazis war er ‚unwertes Leben‘, das sie mit ihren Euthanasie-Programmen aus der Welt schaffen wollten.“